Freitag, 29. März 2024

Die Bonbon Geschichte

Heute möchte ich euch von meiner Bonbon Geschichte erzählen und warum ich so gerne zur Arbeit gehe: Es wird ja an allen Ecken gejammert und fast alle Geschichten landen irgendwann einmal in einem Friseurgeschäft. Mit meinen über 30 Jahren auf diesem schönen Beruf, hab ich da auch schon einiges gehört. Leider häuft sich die Unzufriedenheit gerade bei der Arbeiterklasse vorwiegend Angestellten - die Zahl von zufrieden Menschen ist überschaubar - ob auf der Arbeit oder im Privatleben, der Frust frisst sich tief in die Eingeweide der Mitmenschen. In der Tat gibt es gerade auf der Zielgeraden des Lebens nur sehr wenige Menschen die nicht mit dem Leben hadern. Das es auch anders geht, beweisen die wenigen Menschen wie die liebe Gabriella (90) die bei uns im Salon alle 2 Monate immer wieder zum Schneiden Legen besucht. Mit ihrem Leben gänzlich im Einklang und mit Metaphern und einer gewaltigen Lebensspanne gesegnet, trägt sie immer wieder eine Wärme in den Salon, die ich so leider nur an wenigen Menschen erkenne. Mit sich im Reinen und vorbereitet auf das Unausweichliche, erzählt sie von dem Schnitter als wäre es ein aufgehende Naht an einem alten Strickpullover. Nach ihrem Lebensmotto: Der Mensch plant und Gott lacht, hab ich sie lieb gewonnen. Schon alleine ihre warme Geste in dem sie mir immer wieder eine kleine Auswahl von drei verschieden Bonbons mitbringt und beschenkt ist herzergreifend. Bevor sie mir die jedoch in Hand drückt, guckt sie erst nach links und rechts um sicher zu gehen, dass ja keiner diesen privaten und intimen Moment beobachtet, der nur für uns beide bestimmt ist. Das erinnert mich immer an meine Grossmutter die in der selben alten nostalgischen Manier mir als Kind Süsszeug zusteckte, damit meine Mutter dass nicht mit bekam. Dafür begleite ich Gabriella dann Hand in die Hand, wie ein altes Pärchen an ihren Waschplatz. Später während dem Einlegen pflegen wir ein unverkrampftes Gespräch über Gott und die Welt und die gute Gabriella erinnert sich immer wieder an den Dialog unseres letzten Treffens und gibt mir somit das Gefühl weitaus mehr zu sein als "nur" ihr Friseur - das sind unbezahlbare Momente.

Solche Menschen wie Gabriella sind für mich der Massstab des Leben und wenn ich den Luxus habe alt zu werden, will ich genauso werden wie sie - nicht mit dem Leben zu hadern und mit Augenhöhe dem grossen Ganzen gegenüber zu stehen. Und während ich dass hier schreibe hat Gabriella unseren Salon mit ihrem Rollator  bereits wieder verlassen und freut sich auf den Abend und ihre selbst zubereitete Suppe...und wenn mir nächstens Mal wieder jemand auf die Leiste geht, erinnere ich mich gerne an meine Bonbon Geschichte.

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